Topogrammetry Contribution to the “discovery of slowness” in photography
exhibition of dissertation work with the support of the Dresdner Bank for the “Ars Lipsiensis” prize in the new City Hall, Leipzig
Geleitwort Mit dem erstmals 1993 gestifteten jährlichen Kunstpreis ARS LIPSIENSIS möchten wir die künstlerische Entwicklung von besonders begabten Absolventen der Hochschule für Grafik & Buchkunst Leipzig beim Übergang in die freiberufliche Existenz befördern. Diese Ausstellung und Publikation als Teil der Auszeichnung mögen den ersten Schritt in die Öffentlichkeit ebnen. Zugleich ist damit unsere Absicht verbunden, eine der ältesten Kunstakademien Deutschlands als traditionsreiche, bedeutsame Ausbildungsstätte der künstlerischen Jugend anzuerkennen. ARS LIPSIENSIS das ist unser Beitrag zur kulturellen Erneuerungskraft einer jung gebliebenen, alten Bürgerstadt, der wir uns besonders verbunden fühlen. Uwe Spaniol, Direktor der Dresdner Bank, Leipzig
Der diesjährige Absolvent der Leipziger Kunsthochschule wurde zum Preisträger des ARS LIPSIENSIS der Dresdner Bank wegen seines schöpferischen und gestalterisch reifen Umgangs mit der Fotografie erkoren. Dabei fand er das Neue nicht in der bereits angebrochenen digitalen Zukunft dieses Massenmediums, sondern in seiner Vergangenheit, als man im 19. Jahrhundert mittels schwerfälliger Großkameratechnik erstmals in der Meßbildfotografie äußerst genaue, mathematisch berechenbare Architekturaufnahmen herzustellen verstand. Müllers kreative Leistung besteht darin, daß er im nüchternen Dokumentarismus jener «Photogrammetrie» die verborgenen ästhetischen Möglichkeiten der «Topogrammetry» entdeckte. Der von ihm selbst geprägte Begriff heißt einfach «Ortsbeschreibung», meint jedoch komplexe Ortscharakteristik von künstlerischer Relevanz. In der nun schon fast hundertjährigen Geschichte der Fotografie als Kunstmittel von der Collage bis zum Video-Tape ist sie der jüngste Zweig einer offenbar wieder bedeutsamen reinen Kamerafotografie. || Frank-Heinrich Müllers Methode, in metergroßen Fotografien mit der gestochenen Schärfe von Großkameras Bauten, Landschaftsausschnitte und aufgehäufte Dinge zu zeigen, scheint dem Hyperrealismus der Maler benachbart - und ist doch etwas anderes, etwas Fotokunstspezifisches. So verbannt er vor allem alles Schnappschusshafte, Zufällige und den Trompe- l'oeil-Detailfetischismus. Er sucht im eigentlich trivialen Objekt das Wesen, Unverwechselbare, die innere Größe und den strukturellen äußeren Reichtum, oder - um es mit seinen Worten auszudrücken die in jeder Architekturaufnahme verborgen enthaltene Skulptur, Porträthaftigkeit, Landschaft und Stillebenfülle. Müller wählt seine Ausschnitte nicht durch die Mattscheibe. Er erkundet im Umschreiten den Punkt der charaktervollsten Ansicht, die dann wie beim Meßbild fast stets frontal, in ebener Perspektive und mit deutlicher Neigung zum Symmetrischen oder Monumentalen auf das 13 x 1 8 Negativ gebannt wird. Dank dieser Größe ist zugleich die Detailauflösung und der Nuancenreichtum seiner Schwarz-Weiß Tonskala unübertroffen. Um noch intensiver die Komplexität des Großen und Kleinen sowie die Ambivalenz von Erhabenem, Kostbarem und Gewaltsamen herüberzubringen, nutzt auch das photogrammetrische Prinzip der segmentierten Reihung eines Objekts in Dreier-, Fünfer- oder Siebenerschritten in Fotografien und Multivisionen. Das Auge vermag jetzt «Zeichen» zu entdecken, die es sonst nicht sieht. Das stets menschenfreie Objekt gewinnt ein Eigenleben von zeitloser Gültigkeit. || Die Zeit scheint in der Statik stillzustehen. Das Prinzip der «Langsamkeit», des suggestiven, tieferschauenden Verweilens an einem Ort, wird bei diesen gemäldegroßen Fotografien eine ästhetische Kategorie. || Jedoch geht es dem Autor mehr als um die Kultivierung des Ästhetischen als l'art pour l'art. Dahinter steht das Ethos des Protestierenden gegen das Vergessen steinerner Zeugen vergangenen menschlichen Ingeniums der Arbeit, die kein Denkmalschutz bewahrt. Flächendeckend sind seit der Wende in Neufünfland durchaus charaktervolle Industrieanlagen von der Gründer- bis zur DDR-Zeit zu toten Gehäusen geworden, ersetzt bisweilen von modern-funktioneller Anonymität. Frank-Heinrich Müller reagiert auf solchen Werteumbruch ohne anzuklagen. Er hält in seinen protokollarisch-expressiven Foto-Kunstwerken die Realität des Gestern im Heute für die Erinnerung im Morgen fest. Er setzt der «westlichen» rasenden Beschleunigung des zivilisatorischen Lebens in Anlehnung an Heiner Müllers Theorem die «östliche» Verlangsamung zur Besinnung auf das Wesentliche als Weltbild entgegen. Im Grunde ist seine «Topogrammetry» gar nicht weit von der «Photogrammetrie» entfernt und doch ganz anders: Beide geben mit unübertroffener Präzision ein Abbild des Realen; nach dem alten Meßbild kann man einen zerstörten Bau wieder originalgetreu errichten, nach F.-H. Müllers «Ortsbeschreibung» kann man die «Seele» verlorener Wirklichkeit entdecken. Damit schärft er im Beschwören geschichtlicher Identität das Kulturgewissen unserer Zeit. Günter Meißner